Mail vom 16.04.2020, 18:48 Uhr: „Ich bin als Assistenzärztin auf der Intensivstation eines mittelgroßen Krankenhauses im Ruhrgebiet tätig. Seit etwa drei bis vier Wochen steht unsere Klinik halb leer, um Kapazitäten für Covid-Patient*innen zu schaffen. Wir haben eine komplette Normalstation als Isolierungsstation eingerichtet und bei uns auf der Intensivstation immer nur zwischen 5 und 8 von insgesamt 14 Betten belegt. Nachdem sich viele Covid-Verdachtsfälle als unbestätigt herausstellten und wir lediglich 4-5 Fälle von bestätigten Infektionen auf Normalstation hatten und keinen einzigen beatmeten Fall auf Intensivstation, nahmen wir endlich einen beatmeten Patienten aus Holland auf, der per Hubschrauber eingeflogen wurde.
Zum Glück. Denn uns fiel die Decke auf den Kopf! Nach tausenden Krisensitzungen und ausgeklügelten Notfallplänen (die Klinik hat zusätzliche Beatmungsgeräte angeschafft, um zur Not auch auf der Intermediate Care Unit, also der „Wachstation“ Patient*innen beatmen zu können), blieben die Patient*innen einfach aus. Es gab Tage, da haben wir aus Langeweile Tischtennis auf der Intensivstation gespielt. Ich hab ein Foto davon, vielleicht sollte ich es an die Bild-Zeitung verkaufen, würde eine gute Schlagzeile machen… Aber es wäre ja nicht im Sinne der Bild und auch nicht der anderen Mainstream-Medien.
Ich will gar nicht von den zahlreichen Kollateralschäden, sowohl medizinischer Art (durch Nichtbehandlung oder Vernachlässigung von Nicht-Covid-Patient*innen), als auch finanzieller Art (durch Ausfall der elektiven Eingriffe und Therapien) sprechen, die für unser Klinikum entstanden sind, denn das macht ja nur einen kleinen Teil des Gesamtschadens aus.
Es geht ja nicht nur um unsere Klinik und Patient*innen. Es geht ja um gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Kollateralschäden, deren Ausmaß wir nicht annähernd vorausahnen können.
Was mich aber am meisten wütend macht, ist die Tatsache, dass man weder in der Politik noch in den Medien über die Lage in deutschen Kliniken spricht! Ich weiß von befreundeten Ärzt*innen in ganz Deutschland, dass sich die Lage mittlerweile absolut entspannt hat (Datum 16.4.), auch an Kliniken, wo zwischenzeitlich (Ende März/Anfang April) viele Covid-Patienten behandelt wurden. Wobei man sagen muss, dass selbst zu „Peak“-Zeiten keine der Kliniken (weder kleine Häuser noch Universitätskliniken) total ausgelastet war.
Aber uns fragt ja keiner.
Anders als in Italien, wo die Lage anscheinend tatsächlich dramatisch war, kommen in Deutschland keine Intensivmediziner zu Wort. Nur Virologen, die in ihren Laboren hocken. Und die schwerwiegenden politischen Entscheidungen werden allein aufgrund von abstrakten Zahlen getroffen! Statistiken, denen man ja sprichwörtlich nur trauen sollte, wenn man sie selber gefälscht hat.
Ich verstehe nicht, wie es sein kann, dass die Lage in deutschen Krankenhäusern kein Stück weit thematisiert wird. Wir sind in der priviligierten Ausnahmelage, mitunter das beste Gesundheitssystem der Welt zu haben, und was Intensivbetten und Beatmungsplätze angeht, hatten wir schon vor Corona die meisten pro Einwohner auf der ganzen Welt.
Normalerweise sind wir absolut überversorgt und machen viele unnötige Behandlungen, nur weil sie Geld bringen (das ist ein anderer Missstand, den zu thematisieren den Rahmen sprengt). In Corona-Zeiten haben wir jedoch wie es scheint eine mächtige Waffe in der Hand. Zudem wurde noch mehr aufgestockt und noch mehr Intensivkapazitäten geschaffen. Die Kliniken haben wochenlang an Notfallplänen gearbeitet. Die Corona-Krise kann uns beim besten Willen nicht so hart treffen wie Italien.
Deshalb plädiere ich dafür, entweder mehr Solidarität mit anderen europäischen Ländern zu zeigen und mehr Patienten aus dem Ausland aufzunehmen, oder die politischen Maßnahmen endlich an die klinische Realität anzupassen.
Ich betone nochmals, dass ich für die Lage in Deutschland spreche, und bin mir bewusst, dass die Verläufe in anderen Ländern anders sind, waren oder sein können.“