Mail vom 09.10.2020: Hallo, ich arbeite, angestellt bei einer gemeinnützigen Praxis, fürs Jugendamt als SPFH ( heißt Sozialpädagogische Jugendhilfe) und Erziehungsbeistand in der ambulanten Jugendhilfe. Ich gehe fürs Jugendamt in Familien, in denen gravierende Probleme, sei es Sucht, Gewalt, Missbrauch, psychische Erkrankungen, Überforderung, Erziehungsunfähigkeit oder Vernachlässigung bestehen und unterstütze Kinder und Eltern, um Kindeswohlgefährdung abzuhelfen oder vorzubeugen. Wir durften buchstäblich Mitte März von einem Tag auf den anderen nicht mehr in die Familien auf Anweisung des Jugendamtes. Nur noch Kontakte per WhatsApp und Telefon waren möglich. Ich bin normalerweise im Schnitt je vier Stunden verteilt auf zwei Termine pro Woche in der Familie. Es war nicht möglich, die Beziehung über die Medien aufrecht zu erhalten. Am 17. April bin ich dann auf eigene Verantwortung wieder in die Familien, um die Situation live zu erleben. Ich habe die Termine im Freien gemacht, um trotzdem die Abstandsregeln einhalten zu können. Ich habe Kinder, die in den Wochen des Lockdown und darüber hinaus keinerlei Kontakt zu anderen Kindern und Menschen hatten, aus Angst, die eigenen oder fremden Großeltern könnten angesteckt werden und müßten dann sterben. Da unsere Praxis gemeinnützig war, gab es keine Soforthilfen, was aber erst mitgeteilt wurde, nachdem Anträge gestellt wurden. Nach einiger Mühe vom Chef wurde dann vom Jugendamt in Bayern, Landkreis Cham in einem komplizierten Verfahren mit mehrfach verschiedenen Abrechnungsverfahren Auszahlungen genehmigt, jedoch hieß es erst, wir Mitarbeiter müßten uns für soziale Arbeiten zur Verfügung stellen zu.B.Erntehelfer, Beaufsichtigung von Kindern der Mitarbeiter von Behörden. Dazu kam es jedoch nicht. Jetzt im Oktober kommt es in meinen Familien verstärkt zu Schulausschlüssen und Inobhutnahmen bzw. Fremdbetreuung, weil die Kinder in den Schulen nicht mehr führbar sind. Ich hab sechs Familien und drei sind von diesen Maßnahmen akut bedroht. Wir versuchen sie noch abzuwenden. Und jetzt erst im Oktober kommen in meinen Familien die Leih-Laptops an. Viele Eltern sind finanziell und nervlich am Ende und werden jetzt auch noch mit den sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen konfrontiert. In unserer Praxis werden keine Gespräche über Corona geduldet. Eigentlich müssten wir mit Maske in die Familien und auch die Familien müßten Masken tragen. Ich mache das nicht, aber auf eigenes Risiko- das würde uns vom Chef freigestellt. Ich müßte gegebenenfalls dann selber die Konsequenzen tragen. Bei Anzeichen von Erkältungssymptomen mache ich keine persönlichen Kontakte, oder nur im Freien mit den Mitgliedern ohne Anzeichen von Erkältung. Das wird zunehmend schwieriger und die Stunden, die mir dadurch kurzfristig ausfallen, kann ich nicht abrechnen. Sie fallen auf meinem Stundenkonto als Minusstunden an. Eltern haben sich über eine Kollegin beschwert, die auf einer Demo war. Es sind spannungsgeladene Zustände.
12. Oktober 202012. Oktober 2020By RA'in Fischer