Mail vom 31.03.2020, 10:40 Uhr: Da in unserer Familie einige Beispiele aufzuzählen sind, inwiefern der Lockdown die Risiken auf andere Gruppen verschiebt möchte ich mich heute mit diesem Schreiben an Ihrer Sammlung von Beispielen beteiligen. Da Sie vermutlich zahlreiche Zuschriften erhalten fasse ich unsere Erfahrungen stichwortartig zusammen.

  • ich selbst leide unter einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung mit Neigung zur Dissoziation bei gefühlter Bedrohung. Da die Trigger vornehmlich im Bezug auf Gesundheit/Ärzte/Krankenhaus angesiedelt sind aufgrund traumatischer Erfahrung in Krankenhäusern in der Kindheit, verbringe ich diese Tage vorwiegend in dissoziiertem Zustand. Zudem darf ich meine Therapeuten und Psychiater nicht mehr sehen, es gibt keine Kinderbetreuung und keine Frühen Hilfen mehr. Unterstützung von Freunden und Familie fällt ebenfalls weg. Was es für meinen Mann und die beiden kleinen Kinder bedeutet, wenn die Frau/Mutter über weite Strecken des Tages in Todesangst und nicht ansprechbar ist und niemand zur Hilfe kommen kann, kann man niemandem erklären der das nicht selbst erlebt hat.
  • Mein Mann ist an Morbus Bechterew erkrankt, eine chronische Erkrankung die gut unter Kontrolle war mit Hilfe von gut eingestellten und aufeinander abgestimmten Therapien. Dazu gehören regelmäßige Physiotherapie, regelmäßige Injektionen ins Auge, regelmäßige Kontrolle beim Rheumatologen und ggf. Anpassung der Medikamente. All diese Termine wurden nun abgesagt. Unbehandelt hat mein Mann mit ständigen Schmerzen zu kämpfen, zunehmender Versteifung seiner Gelenke und seiner Wirbelsäule sowie zunehmendem Verlust der Sehfähigkeit.
  • Der Lebensgefährte meiner (…) hatte im Januar eine sehr schwere Operation aufgrund einer Krebserkrankung im Rachen. Als Folge der OP hat er ein Tracheostoma, das vor dem Lockdown regelmäßig medizinisch versorgt und kontrolliert wurde. Außerdem war eine Rehabilitation geplant in deren Rahmen er erneut Schlucken und Sprechen lernen sollte. Momentan wird er durch eine Magensonde ernährt. Alle Termine wurden ersatzlos abgesagt. Er ist nun ohne medizinische Versorgung zu Hause, kann weder Sprechen noch Essen und es ist fraglich ob er das noch einmal lernen kann wenn zu viel Zeit verstrichen ist.
  • Meine Eltern leben und arbeiten in einer integrativen Wohngemeinschaft mit Menschen mit Unterstützungsbedarf. Diese sind auf eine vertraute Tagesstruktur und fest etablierte Abläufe angewiesen. Da die tägliche Arbeit in der Werkstatt ersatzlos wegfällt sind nun meine Eltern rund um die Uhr mit acht orientierungslosen Menschen zu Hause eingesperrt, die alle intellektuell nicht in der Lage sind zu begreifen was in der Welt vor sich geht. Sie geraten sehr leicht in Panik, leiden unter mangelnder Impulskontrolle und können sich nicht allein beschäftigen. Für meine Eltern ist es eine unfassbare Herausforderung diese Situation unter Kontrolle zu halten.
  • Ich habe mich in der Schwangerschaft mit meiner zweiten Tochter sehr intensiv mit traumafreier Geburt beschäftigt und sehe alle Erkenntnisse die es hierzu inzwischen gibt im Moment mit Füßen getreten. Einige Freundinnen von mir und auch Frauen die ich nicht persönlich kenne, von denen mir aber meine Schwester, die Hebamme ist, berichtet, sehen sich derzeit gezwungen, ohne ihre Partner zu entbinden. Welches Risiko dies für Mutter UND Kind bedeutet ist nicht abzuschätzen. Sicherheitsgefühl der Mutter ist für einen komplikationslosen Geburtsverlauf die wichtigste Grundlage. Einige Mütter erwägen sogar eine heimliche Alleingeburt ohne Hebamme weil sie dieses Szenario vorziehen anstatt allein im Kreißsaal zu sein. Was das für ein Risiko bedeutet ist unüberschaubar.
  • Als Krisenbegleiterin telefoniere ich täglich mit Menschen, die in der derzeitigen Situation am Rande ihrer Existenzmöglichkeit stehen. Darunter sind Menschen, die unter diesen Umständen zum ersten Mal auch suizidale Gedanken äußern weil sie die innere Not alleine nicht mehr regulieren können. Ein gesellschaftliches Klima das fordert man solle sich doch solidarisch verhalten und die eigenen Bedürfnisse zum Wohle aller für eine Weile unterordnen, verschlimmert die Situation derer, die eine eingeschränkte Regulationsfähigkeit, z.B. aufgrund von Trauma haben bis ins unermessliche. Es fühlt sich einfach nur zynisch an. Es ist in diesem Fall schlicht keine Frage des Willens und es ist verantwortungslos, diese nicht zu kleine Gruppe von Menschen in dieser Situation einfach zu ignorieren.

Die Liste kann vermutlich endlos fortgeführt werden.. danke dass Sie sich einsetzen!!!