Mail vom 04.08.2020, 07:45 Uhr:

Ich arbeite als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin seit 20 Jahren in eigener Praxis in Niedersachsen. Ich bin in der DDR-Diktatur aufgewachsen und habe die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den letzten Jahren in unserem Land mit großer Sorge betrachtet. Die zunehmende Spaltung, Moralisierung, Angst vor freier Meinungsäußerung erinnern sehr an meine Erfahrungen mit Diktatur. Unter den Corona-Maßnahmen tritt all dies nun ganz offen zutage.

Sehr viele Menschen haben inzwischen keine Angst mehr vor dem Virus, sondern vor Diffamierung und Ausgrenzung, wenn sie die staatlich verordneten Maßnahmen infrage stellen. Sowohl im beruflichen wie im privaten Umfeld erlebe ich wie sich zunehmend bei den Menschen eine „öffentliche“ Meinung und eine „private“ Meinung herausbildet (so war dies auch in der DDR), die dann hinter vorgehaltener Hand geäußert wird. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich nochmals wie 1989 auf die Straße gehen muss, um für Grundrechte zu demonstrieren. Ich habe große Sorge, dass wir wieder auf dem Weg in eine Diktatur sind.

Den Schilderungen von Frau Sternbeck kann ich mich nur anschließen. Unter den verordneten Corona-Maßnahmen leiden alle Kinder und Jugendlichen, ganz besonders da auch kein Ende abzusehen ist und auch nach den Sommerferien die Hygienemaßnahmen wie Abstandsregel, Mund-Nasen-Schutz fortbestehen werden.  Ich werde ständig gefragt: „wielange machen die das denn noch“, „wann hört das denn auf“.

Ende März waren 2 Lehrerinnen in unserer Stadt positiv auf Corona getestet. Daraufhin wurden vorsorglich 1600 Schüler in Quarantäne gesteckt. Die Eltern dieser Schüler mussten allerdings arbeiten selbst im Pflegeheim.

Von allen Kindern höre ich „das ist nicht mehr meine Schule“, einige Kinder erzählen, dass sie selbst auf dem Schulhof mit Mundschutz in abgegrenzten Arealen stehen müssen, dass sie nicht einmal einen Bleistift von einem Mitschüler ausleihen dürfen, dass Lehrer kaum noch an den Tisch der Schüler gehen, um zu helfen. Eine Patientin (Schülerin einer 4. Klasse) erzählte unter Tränen, dass den Kindern am letzten Schultag verboten wurde, sich von den Freundinnen zu verabschieden, die man wegen des Schulwechsels an die weiterführende Schule nach den Sommerferien vielleicht nicht mehr sehen kann.

Aber auch viele Lehrer und Erzieher leiden unter diesen Maßnahmen, trauen sich dies aber nicht offen zu äußern.
Eine 12 jährige Patientin hat eine Zwangsstörung entwickelt: sie muss ständig ihre Atemzüge zählen, weil sie Angst hat zu ersticken. (Dies habe sie oft im Fernsehen gehört, dass man an dem Virus qualvoll ersticken kann)
Besonders problematisch finde ich, dass mit dem Lockdown für gefährdete Kinder in den Familien von einem auf den anderen Tag alle Hilfen eingestellt wurden. Keine Familienhelfer durften mehr in die Familien, die Tagesgruppen, welche diese Kinder nach der Schule besuchen, um möglichst wenig Zeit in der Familie zu verbringen, wurden geschlossen. Auch die Psychotherapie war für diese Kinder nicht mehr möglich, da sie niemanden hatten, der sie bringen konnte. Das ist einfach unverantwortlich.
Hier hat sich der Staat, dem unsere Gesundheit so am Herzen liegt, plötzlich nicht mehr für das Kindeswohl dieser Kinder interessiert und sie mit gewalttätigen Eltern allein gelassen.
Jugendliche schilderten mir, dass sie eine Ordnungsstrafe zahlen mussten, weil sie zu fünft vor einem Imbiss einen Döner gegessen hatten. Eine andere Jugendliche erzählte, dass ihre Schwester sich im Haus des Freundes mit zwei anderen befreundeten Paaren getroffen hatten. Die Nachbarn hatten dann die Polizei gerufen und sie mussten ebenfalls eine Ordnungsstrafe zahlen.
Eine Patientin sagte ganz verzweifelt: „die stehlen mir meine Jugend“. Sie hatte sich nach einer schweren Depression einen neuen Freundeskreis aufgebaut, einen Tanzkurs begonnen und den Lebensmut wieder gefunden und nichts von dem, was sie sich so mühsam im letzten Jahr erarbeitet hat, ist mehr möglich.
In den Wohngruppen konnten Kinder ihre Eltern 10 Wochen lang nicht sehen. Für Kinder, die noch ein anderes Zeitempfinden haben, eine Ewigkeit. Als dann endlich ein Treffen wieder möglich wurde, standen sich Eltern und Kinder in 2m Entfernung mit Mundschutz gegenüber und durften sich nicht in den Arm nehmen. Ein achtjähriger Patient hat daraufhin mit sein Zimmer verwüstet.
Zur Zeit sind alle Kinder und Jugendlichen und auch die Eltern in Sorge vor einem 2. Lockdown, von dem in den Medien gerade häufig die Rede ist.
Psychotherapie, d.h. die Bearbeitung der eigentlichen Schwierigkeiten und Probleme der Kinder, ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. In den Sitzungen dreht sich alles um Corona.

Sicherlich haben Sie schon viele dieser Beispiele gehört. Aber vielleicht kann ich mit meinen geschildetern Fällen auch noch einen kleinen Beitrag zur Aufklärung leisten. Bereits jetzt sind schon psychische Folgen dieser Maßnahmen sehr deutlich bei Kindern und Jugendlichen zu sehen und die Anfragen nach einem Therapieplatz steigen rasant an. Die Spätfolgen dieser traumatischen Erfahrungen sind noch gar nicht abzusehen.

Ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit weiterhin ganz viel Erfolg und verbleibe mit freundlichen Grüßen