Mail vom 16.04.2020, 10:27 Uhr: Sie bitten um Erfahrungsberichte, hier ist meiner: Ich bin 65 Jahre allein lebend und schwer an Rheuma erkrankt. Mein Lebensgefährte lebt in einem anderen Stadtbezirk und darf mich nicht besuchen. Bis November vergangenen Jahres habe ich meine 91jährige Mutter zu Hause gepflegt. Zuletzt mit Hilfe eines Pflegedienstes. Aber es wurde immer schwieriger, da der Pflegedienst nachts nicht kommt und meine Mutter fast jede Nacht, auf dem Gang zur Toilette stürzte und ich sie nicht mehr hoch bekam. Ich konnte auch nicht jede Nacht meine Nachbarn zu Hilfe holen und auch mein Sohn konnte nicht jede Nacht kommen, da er arbeitet und auch nicht gleich um die Ecke wohnt. Zuletzt kam sie mit einem schweren Sturz ins Krankenhaus für 4 Wochen, dort empfahl man uns die Unterbringung in einem Pflegeheim.

Schweren Herzens wurde ein Heim in der Nähe ausgesucht und seit kurz vor Weihnachten ist sie dort untergebracht. Sie hat alles soweit ganz gut verkraftet, weil sich die ganze Familie auch sehr kümmert. Sie hatte täglich Besuch von mir und auch vom Enkelsohn und seiner Freundin am Wochenende regelmäßig. Seit nunmehr 4 Wochen ist das nicht mehr möglich. Nun rufen wir uns an. Ich bekomme 6-10 Anrufe täglich. Da sie auch immer vergesslicher wird, weiß sie gar nicht, dass Sie mich schon angerufen hat. Geduldig erkläre ich ihr alles. Sie sagt, dass Sie uns sehen will, lieber stirbt sie an dem Virus, als keinen Besuch mehr zu bekommen. Und es wäre ja schlimmer als im Gefängnis, denn dort würde man ja wenigstens Besuch bekommen dürfen.

Da sie gern liest, wollten wir ihr ein paar Bücher und Zeitschriften bringen und abgeben. Selbst das hat man verboten. Sie sagte mir, dass Sie jede Woche abnimmt (sie ist schon untergewichtig) und das sie jetzt in den Hungerstreik tritt, bis wir sie wieder besuchen dürfen. Ich war entsetzt. Ich habe natürlich versucht ihr das auszureden indem ich ihr sagte, dass wir sie doch gesund wiedersehen wollen. Sie meinte darauf nur: wenn sie im Sterben liegt, darf 1 Person kommen. Ich bin vollkommen verzweifelt. Ich weine nur noch, esse und schlafe kaum.

Meine eigene Gesundheit geht dabei auch den Bach runter. Ich bekomme einen Rheumaschub nach dem anderen. Das war nie so. Ich hatte alles gut im Griff und ich war mal ein fröhlicher Mensch. Jetzt lebe ich wie in Trance. Im Sommer wollte ihr einziger Enkel heiraten. Das wollte sie noch erleben und das baute sie auf. Nun ist alles abgesagt, muß trotzdem bezahlt werden und auf Grund der weiteren Kosten wird es überhaupt keine Hochzeit geben – das Fest wird also nicht verschoben. Das kann ich ihr nicht erzählen, denn dann würde sie überhaupt keinen Lebensmut mehr haben. Das ganze Leben hat keinerlei Freuden mehr. Ich sitze hier vollkommen allein und obwohl ich in der „Risikogruppe“ bin möchte ich nicht, dass alle ständig Rücksicht nehmen. Wegen mir muß auch kein ganzes Land zum Stillstand gebracht werden.

Ich bin seit 30 Jahren immunsupprimiert, ohne das ich mein Leben deswegen eingeschränkt habe. Es hat mich danach auch niemand gefragt, es hat niemanden interessiert. Jetzt auf einmal soviel „Fürsorge“ für die Alten? Wo war die Fürsorge als ich Rente beantragte und Sie mir verwehrt wurde? Wo war diese Fürsorge, als meine Erwerbsunfähigkeitsrente als Alleinerziehende nicht mehr reichte? Wo war diese Fürsoge, als ich mich schlecht fühlte und noch nie in meinem Leben eine Kur bekam. Wo war diese Fürsorge als es um Arzttermine ging, die ich erst nach einem halben Jahr erhielt? Und plötzlich will die Regierung mich schützen? Wie scheinheilig!

Was passiert hier? Mich muß niemand schützen, ich schütze mich schon selbst. Denn ich bin mündig. Ich habe mein Leben immer in dem Bewusstsein gelebt jederzeit irgendwie, irgendwann oder irgendwo mit einem Virus angesteckt werden zu können. Das ganze Leben ist ein Risiko und es endet immer tödlich. In der jetzigen Situation war ich zuerst einmal völlig gelähmt. Von jetzt auf gleich durfte man das Haus nicht mehr ohne Grund verlassen, keine Gäste mehr einladen. Ich empfinde das, als vollkommen überzogen und unverhältnismäßig. Was ist los in diesem Land? Wie wird hier mit Menschen umgegangen? Wo bleiben die Menschenrechte? Was ist mit dem Grundgesetz? Ich habe Angst in einer Diktatur aufzuwachen… Oder ist es längst schon so weit?