Mail vom 17.05.2020, 15:43 Uhr: Ich wohne an der Niederländisch-Deutschen Grenze und studiere an der RWTH Aachen. Auf niederländischer Seite waren die vergangenen Wochen auch mit Einschränkungen verbunden, allerdings habe ich diese für mich persönlich weniger dramatisch empfunden. Einkaufen und der gesamte Alltag sind weiterhin ohne Mundschutz möglich, fast alle Geschäfte kommen ohne Türsteher aus. Die Menschen sind freundlich, sachlich und halten eben wo es geht etwas mehr Abstand.

Nach diversen Planänderungen konnte die Prüfungsperiode an der RWTH Aachen University dann doch Anfang Mai fortgesetzt werden. Ich freute mich auf meine letzte Klausur, immerhin hatte ich dank COVID-19 genug Zeit für die Vorbereitung gehabt. Am Tag der Klausur kam die erste Ernüchterung an der deutschen Grenze. Polizeikontrolle, ich müsse für 14 Tage in Quarantäne wenn ich mich länger als 72 h in den Niederlanden aufgehalten hätte. Wie sollte das gehen? Hotelzimmer waren in der gegenwärtigen Situation nicht zu bekommen. Ich fahre keine 10 km zur Uni und soll nun idealerweise zwei Wochen vorher unter der Brücke leben? Nach einer Diskussion mit den Beamten durfte ich schließlich einreisen.

Für die Hörsäle und Gebäude der Uni gab es vorab per E-Mail die Empfehlung, eine Mund-Nasen-Maske zu tragen. Am Hörsaalgebäude selbst dagegen keine Hinweise oder Aushänge. Lediglich die Schar meiner mit Stoffresten vermummten und feinstaubmaskentragenden Kommilitonen verunsicherte mich etwas. War diese Art der medizinisch umstrittenen Gesichtsverschleierung etwa doch das absolute must-have in Deutschland? In den Niederlanden war mir niemand mit einer Maske bis zu dem Zeitpunkt begegnet. Also betrat ich unter bösen Blicken das Hörsaalgebäude. Zweite Ernüchterung: Ein Mitarbeiter der Hochschulwache Aachen (eine Art Schließ- und Sicherheitsdienst der Universität) stoppte mich. „Wo ist Ihre Maske? Brauchen Sie ein Bußgeld?“ fragte er mit dramatischem Tonfall. Ich traute meinen Ohren nicht. Ein Bußgeld für welches Vergehen und vor allem von wem erhoben? Der hagere Mann in seiner Phantasieuniform hatte sich scheinbar selbst in die Position einer behördlichen Verschleierungspolizei befördert. Ich versuchte ihm den Unterschied zwischen einer Empfehlung und einem Gesetz nahe zu bringen, es gelang mir scheinbar aber nicht. Weil ich weder die Klausur noch einen Rausschmiss aus dem Gebäude riskieren wollte, bot ich ihm an, eine von der RWTH zur Verfügung gestellte Maske zu tragen. Die Diskussion flammt erneut auf. Nachdem ich ihm die Webseite der Uni zeigte, aus der hervorging, dass die RWTH bei Bedarf Studierenden Masken zur Verfügung stellt, willigte er ein und ging. Minuten später erschien er mit einem länglichen Stück Industrievlies, welches er irrsinniger Weise genau in der Mitte an der Stelle, die wohl für den Mund gedacht sein sollte, trug. Da ich wenig Lust auf weitere Diskussionen mit dem schmächtigen Kleingeist hatte und ich mich bisher immer besten Abwehrkräften erfreuen konnte, versuchte ich also das Stückchen Industrievlies ohne Halter mit den ausgestanzten Stellen an meinen Ohren zu befestigen. Bauform und Beschaffenheit sorgten leider dafür, das entweder Augen und Nase oder nur der Mund bedeckt waren. Ich entschied mich für die Mundbedeckung und der Schelm der Hochschulwache war sichtlich erleichtert, nun alle Gefahren gebannt zu haben.

Ich suchte mir also meinen Weg durch den Dschungel aus Flatterband und Klebeband bis zum Klausurraum und schon erwartete mich stilvoll hinter völlig verkratztem Acrylglas sitzend die nächste Ernüchterung: Eine Identitätskontrolle. Dies geht natürlich nur ohne Maske. Klar doch, gar kein Problem, nimmt man die Maske eben wieder ab. Dann ging es in den Raum hinein. Drei Leute standen für etwa 15 Klausurteilnehmer als Platzanweiser und Aufsicht bereit. Erneut großes Drama, die 5 Meter bis zum Platz müssen natürlich wieder mit Maske zurückgelegt werden. Am Platz selbst wird die Maske dann aber wiederum abgenommen, man könnte die Maske ja zum Täuschungsversuch missbrauchen.

Was für ein Konzept! Was für eine Erfahrung von Logik, Augenmaß und Weitsicht! Selten zuvor habe ich mich bei einer Klausur so sicher gefühlt.